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Reading Rämistrasse #109: Jörg Scheller zu Brigham Baker bei annex14 - Akademie - Kunsthalle Zürich
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Reading Rämistrasse #109: Jörg Scheller zu Brigham Baker bei annex14

Disclaimer: Brigham Baker war Student von Jörg Scheller an der Zürcher Hochschule der Künste, ein Abhängigkeitsverhältnis besteht seit 2015 nicht mehr

In Zeiten, die vor monumentalen Problemen, dröhnenden Thesen und Demonstrationen der Stärke nur so strotzen, drohen jene feinen Zwischentöne und jene spielerische Leichtigkeit, durch die das Leben erst seine eigentliche Qualität gewinnt, unterzugehen. Zum Glück gibt es Künstler wie Brigham Baker. Seine Arbeiten kommen ohne bedeutungsschwangeren theoretischen Überbau aus. Baker verzichtet auch auf starke politische Gesten – was nicht bedeutet, dass seine Kunst nicht auf subtile Weise politisch wäre. Doch statt der grossen Bühne sucht er das Unscheinbare, Uneindeutige, Unbestimmte in alltäglichen Situationen.

Die Übergangszonen oder Interaktionen zwischen (menschlicher) Kultur und Natur bilden einen Schwerpunkt des Künstlers, etwa wenn er in Hive (2020, diverse) zwei Bienenkästen übereinander stapelt, eine blaugefärbte Zeitung dazwischen schiebt und die beiden Völker sich durch letztere hindurch und aufeinander zu knuspern lässt – bis sie sich friedlich vereinigen. Ein hintersinniger, lakonischer Humor prägt Bakers Arbeiten und durchkreuzt spielerisch den Mythos souveräner Autorschaft.

Bakers aktuelle Ausstellung plen air trespass bei Annex14 zeugt von seinen Streifzügen durch die Stadt und ihre Randzonen, in diesem Fall Kleingartenanlagen. Gärten sind Natur-Kultur-Hybride; der Kleingarten, dessen Ursprünge in den Armengärten des 19. Jahrhunderts liegen, ist die wohl sozialdemokratischste Ausprägung moderner Landkultivierung. Und weil sich Baker nicht nur für das Unscheinbare interessiert, sondern auch für eine niederschwellige, demokratische Kunstpraxis steht, ist die Beschäftigung mit Kleingärten nur folgerichtig.

Brigham Baker, plein air tresspass, annex14, 2023

Auf dem Boden der Galerie stehen aus Kleingärten zusammengetragene Arrangements aus Glasplatten und alten Chemikalienverpackungen sowie ein in schroffer Sprödheit aufragender, rückwandloser Schrank. Auch er stammt aus einer Kleingartenanlage. Schräg gegenüber hat Baker Fäden vom Boden zur Decke gespannt. Sie zeichnen die Längs- und Vertikalkanten des Schranks nach, ziehen sie in die Höhe – womöglich eine Anspielung auf einen Konzeptkünstler, dessen Name in der Ausstellung und folglich auch in diesem Artikel nicht verraten wird. Denn Eindeutigkeit ist Bakers Sache nicht. Vielleicht handelt es sich ja auch nur um eine Anspielung auf Fäden als Rankhilfen in Tomatenbeeten?

Die Wände wiederum sind behängt mit flachen Glaskästen. In diese hatte Baker diverse pflanzenblätterförmige Stoffstücke und industrielle Materialien gelegt, sie mit selbst gekochtem Pflanzensud übergossen und den Rest der Verdunstung überlassen. Die Forderung der Fluxus-Szene, Kunst solle «natürlich» sein, erfährt dergestalt eine Aktualisierung. Im Resultat wirkt das, als hätte László Moholy-Nagy mit Arte-Povera-Künstlern und Hinterglasmalern ein Fotogramm-Projekt zum Gedenken an John Cage unter den Vorzeichen des Anthropozäns realisiert. Henry Fox Talbots «Pencil of Nature» zeichnet dabei physikalisch statt chemisch: Verdunstendes Wasser hinterlässt Partikelansammlungen, die emergente Sedimentierung und planvolles Muster zugleich sind. Da überrascht die Tatsache nicht, dass sich Bakers multimediale Praxis aus der Fotografie entwickelt hat. Talbots Idee vom Bild, das sich selbst zeichnet, hat Baker auf immer mehr nicht-menschliche Mitgestalter wie Wasser, Sonne, Bienen übertragen und dem Fluxus angenähert.

Brigham Baker, plein air tresspass, annex14, 2023

Wie sich Brigham Baker den Übergangszonen oder Interaktionen zwischen Natur und menschlicher Kultur nähert, hat nichts gemein mit dem aufmerksamkeitsökonomisch einträglichen Stil etwa eines Olafur Eliasson, der sich mit spektakulären Aktionen wie dem Einfärben ganzer Flüsse oder dem Fluten eines ganzen Museums zum Chefillustrator des Anthropozäns aufschwingt. Baker vertritt mit seinem spielerisch-experimentellen Neo-Fluxus nicht nur eine wahrnehmungs- und alltagssensible «Kunst als Erfahrung» (John Dewey), die an die weltzugewandte Offenheit der Philosophie des amerikanischen Pragmatismus denken lässt, sondern auch den Typus des Flaneurs, wie ihn Walter Benjamin beschrieb:
«Die großen Reminiszenzen, die historischen Schauer – sie sind dem wahren Flaneur ja ein Bettel, den er gerne dem Reisenden überläßt. Und all sein Wissen von Künstlerklausen, Geburtsstätten oder fürstlichen Domizilen gibt er für die Witterung einer einzigen Schwelle oder das Tastgefühl einer einzigen Fliese dahin, wie der erstbeste Haushund sie mit davonträgt.»

Brigham Baker, plein air tresspass, annex14, Löwenbräukunst, Limmatstrasse 270, 14. Januar–18. Februar 2023

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